Die Leiden der Scheidungskinder

In einem neuen Buch erzählen Trennungs-Opfer ihre erschütternde Geschichte

Berlin - Ihre Mutter nannte sie einfach nur "Mutter", die Stiefmutter aber sprach sie liebevoll mit "Mutti" an. Katharina, 13, aus Friesack hatte sich nach der Trennung der Eltern klar auf eine Seite geschlagen: "Hi Mutter", schrieb sie im Februar, "ich find' es ziemlich doof, dass wir wieder gezwungen werden, dich zu treffen." Dann nahm sich Katharina das Leben. Sie hatte den Sorgerechtsstreit der Eltern nicht ertragen. Diese klagten dann noch bis zum Oberlandesgericht, wer denn das Kind beerdigen dürfe.

So wie Katharina leiden immer mehr deutsche Kinder. Die Trennung der Eltern führt sie in lebenslange Krisen, in schwere Krankheiten oder sogar in den Selbstmord. 38 Prozent aller Ehen in Deutschland werden geschieden. 200.000 Scheidungskinder bleiben jährlich aus den Trennungen zurück. 850.000 der insgesamt 15 Millionen deutschen Kinder leben bereits in Patchwork-Familien, das heißt, sie pendeln zwischen zwei Haushalten und wachsen mit mehreren Eltern, Stief- und Halbgeschwistern auf.

Doch mit dem Leiden in der Kindheit nicht genug: Diese Scheidungskinder haben später zu allem Übel auch noch eine "scheidungsanfälligere" Partnerschaft als Altersgenossen, die in funktionierenden Ehen aufwuchsen. Das geht aus einer aktuellen umfassenden soziologischen Studie hervor, die jetzt vom Kölner Professor Michael Wagner und Mitarbeiter Bernd Weiß vorgelegt wurde. Fazit: Ein Scheidungserlebnis in der Kindheit erhöht unter allen möglichen Faktoren das Scheidungsrisiko der eigenen Ehe am deutlichsten. Der Grund: Die Scheidung wurde im Kindesalter als Mittel der Konfliktlösung erlernt, und psychische Spätfolgen ("Scheidungstraumata") verringern die Fähigkeiten, partnerschaftlich zu leben.

"Obwohl die meisten Eltern, die als Kind selbst eine Scheidung erlebt haben, ihren Kindern dieses Schicksal unbedingt ersparen wollen, gelingt ihnen das oft gar nicht mehr", bestätigt auch die Berliner Autorin Ulrike Wendt. In ihrem neuen Buch "Wir Scheidungskinder", das am 17. März erscheint, lässt sie 24 Opfer ehelicher Trennungen ihre Geschichte erzählen. "Da ist zum Beispiel jener 26-jährige Mann", berichtet Wendt, "der als Vorschulkind vom Vater verlassen wurde. Er schwor sich: Mein Sohn wird immer einen Vater haben! Dann verließ er seine Familie, als der Sohn anderthalb Jahre alt war."

"Wir Scheidungskinder" - ein Buch voller Leid und Tränen, voller Groll und Hass, der nie vergeht. Michael ist vier, als der Vater die Familie im Stich lässt. Er ruft die Söhne ins Wohnzimmer: "Ich glaube nicht, dass ihr das schon verstehen könnt, aber ich habe mich in eine andere Frau verliebt und gehe zu ihr." Dann bleibt er noch, weil Weihnachten ist und Michael schwer erkrankt - Verdacht auf Meningitis. Der Vater sitzt stundenlang an Michaels Bett, singt ihm Lieder vor. Doch am 2. Weihnachtstag verlässt er die Familie plötzlich für immer. Michael, 18: "Heute weiß ich, was ich machen muss, wenn ich ihn sehe: ihm den Stinkefinger zeigen."

Pascal, 16, und Ina, 13, waren neun und fünf Jahre alt, als sich ihre Mutter neu verliebte. Ina: "Papa sagte zu Mutti: Entweder er oder ich. Sie entschied sich für den anderen, und Papa zog aus. Das war eine schlimme Zeit." Pascal: "Ich war traurig, als Papa nicht mehr bei uns war, ich hatte jede Nacht Albträume. Manchmal war ich auch Schlafwandler." Ina: "Der neue Mann war ein Pascha, und Mutti musste putzen, bügeln, einkaufen. Ich dachte, dass es richtig ist, wie Mutti das macht. Doch mit der Zeit fand ich es ungerecht (...) Auf Papas neue Frau war ich zuerst eifersüchtig. Wir beide stritten uns oft."

Landschaftsgärtner Robert, 33, entfährt es wie ein Stoßseufzer: Er habe sich, schreibt er voller Zorn, als Kind einfach nur eine "ganz normale, spießige Familie" gewünscht, sonst nichts. Doch dieses Glück blieb ihm verwehrt. Mit seinen Brüdern Emil und Friedrich ging er stattdessen durch die Hölle. Als Friedrich geboren wurde, hatte der Vater bereits eine Geliebte. Robert: "Als ich ein Jahr später, 1969, unterwegs war, wollte mein Vater, dass Mutter abtreibt." Und diesen Tag kann er nie vergessen: "In meiner Kommunionszeit hatte Vater wieder eine Geliebte. Mutter hatte ihn dabei erwischt, wie er mit dieser Frau telefonierte, das Kabel aus der Wand gerissen und ihm das Telefon an den Kopf geworfen. Daraufhin schob er das Klavier, ihr liebstes Stück im Haus, auf die Terrasse und versenkte es im neu angelegten Goldfischteich." Schließlich standen die drei Brüder vor dem Richter, der sie fragte: Bei wem wollt ihr leben? Und sie sagten alle drei wie aus einem Munde: bei unserer Mutter. "Ich würde ihm gern jetzt und nicht erst an seinem Sterbebett sagen, was ich von meinem Vater halte, dass er ein A...loch ist", schreibt Robert. Trostlos klingt seine persönliche Bilanz: "Als Scheidungskind wird einem viel aufgebürdet. Man muss Verantwortung für die Mutter übernehmen, wird dadurch zwar schneller reif, verliert aber einen großen Teil der persönlichen Freiheit."

Das Buch "Wir Scheidungskinder" von Heide-Ulrike Wendt erscheint am 17. März 2003 im Verlag Schwarzkopf & Schwarzkopf. gus

Artikel erschienen am 9. Mär 2003